Zeit für einen Mutausbruch
Prolog
Mit 80km/h schmettere ich meine Kopfhörer-Buchse durch den Flughafen Zürich. Ich murmele ein verlegenes «Sorry» und krieche zerknirscht unter den Sitz einer Seniorin hindurch, um die beiden Flüchtlinge wieder einzustecken. Ich bin etwas nervös. Mein Puls kratzt noch immer an der oberen 180-Grenze. Die mobile Gepäckwage hatte mir nämlich zu Hause ein Koffer-Gewicht von rund 19kg angezeigt. Konnte ich zwar nicht wirklich glauben, da ich das Teil nicht mal vom 1. Stock meiner Altbauwohnung runtertragen konnte. Beim Baggage Drop bestätigte sich dann meine Befürchtung: 23.3kg. Zum Glück hat die Swiss eine Toleranzgrenze und nahm meinen Tönder ohne Gebührenauflagen entgegen. Nachdem ich die herausgefallenen Kopfhörer also wieder im Rucksack verstaut habe, bemerke ich, wie sich die Schlange für das Boarding nach Valencia langsam auflöst. Was wenn mich niemand im Coworking mag? Was wenn ich mit doofen Menschen zusammenleben muss? Was, was, was – in meinem Kopf treiben schon wieder hundert verrückte Gedanken ihr Unwesen. Ich packe die Angst an der Hand und atme noch einmal tief ein und aus. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Vamos! Rauszeit ich komme.
¡hola españa, hola sol!
Ratatata-tatata…Ratatata-tatata – mit Ach und Krach ziehe ich meinen schwarzen Koffer über die beigefarbenen, gepflasterten Gehwege der «Gran Via», eines der drei Quartiere im Eixample-Bezirk. Beim Mercado Colon, eines der repräsentativsten Gebäude des valencianischen Modernismus, bleibe ich zum ersten Mal mit offenem Mund stehen und bewundere die Keramikdetails, die mich stark an Gaudís Bauten in Barcelona erinnern. Wow, ich laufe erst seit fünf Minuten durch Valencias Strassen, habe Tränen in den Augen und will jetzt schon nie mehr weg von hier. Meine Angst hat sich mittlerweile etwas entspannt und hockt still mit baumelnden Beinen auf dem Koffer. Ich blicke links und rechts die Strasse runter und erfreue mich an den hübschen spanischen Renaissance-Gebäuden, während mir die Sonne mit ihren lauschigen 25 Grad auf das gelockte Haar scheint. Das ist also meine Heimat für die nächsten vier Wochen. Was meinst du Angst?
Ein Mikro-Organismus von Persönlichkeiten
Mit einem breiten Grinsen und ihrem charakteristischen «Hola guapi!» begrüsst mich Vivariums Community Managerin Dome vor der drei Meter hohen Eingangstür mit dem eisernen Gitter. Vivarium, das ist mein Coliving und Coworking Space im Herzen Valencias. Ein Konzept, dass mir bis anhin gänzlich unbekannt war. Wir arbeiten nämlich nicht nur zusammen, wir leben auch unter einem Dach.
Ich brauche keine zwei Tage, um zu realisieren, dass wir ein bunter Schmelzhaufen von Persönlichkeiten, Nationalitäten, Lebensmodellen und Berufen sind. Ein kleiner Mikro-Organismus von Digitalen Nomad:innen, Business-Owners, Träumern und Weltenbummlerinnen. Und ich liebe es. Ich treffe auf staatenlose Menschen, die im tiefsten Dschungel Balis von Heilenden zu ihrem Lehrling auserkoren wurden, Remote Worker, die ohne Erlaubnis ihrer Chefs nach Valencia gereist sind, Projektleiter:innen und Entwickler:innen von bekannten Softwares wie Miro oder Zapier, auf einen Texter, der Rezensionen für eine Pornoseite schreibt und sogar einen Marketing-Manager, der Only-Fans-Persönlichkeiten in Sachen Eigenwerbung berät.
Mit meinem Rauszeit-Modell gehöre ich hier klar zur Minderheit. Während ich nach einem Monat wieder zu meinem alltäglichen Bürojob zurückwatscheln werde, reisen die anderen mit ihren portablen Bildschirmen und ihrer minimalistischen Capsule-Wardrobes von Stadt zu Stadt und von Coworking zu Coworking.
Klein-Laila und die Gym-Bros
Wer mich kennt, weiss, grosse WGs sind eigentlich so gar nicht mein Vibe. Nun. Ich habe mich aber bewusst und aus freiem Willen für ein Coliving entschieden. Da muss mensch halt mal beim nicht geputzten Herd ein und bei der mit Öl triefenden Bratpfanne in der Schublade beide Augen zudrücken. In der Rauszeit geht es ja darum, neue Leute und Kulturen kennenzulernen, sich aus der Komfortzone herauszubewegen und ungewohnte Perspektiven einzunehmen. Gut, auf einige Erfahrungen hätte ich auch verzichten können (Adam & Joe – if you have translated this and are reading this right now – you know what or who I mean.)
Die renovierte Altbauwohnung mit den Stuckaturen an der Decke und den bunten Mosaikfliesen am Boden teile ich mit einem Briten (der gefühlt jedes Buch dieser Welt gelesen hat und mit dem ich fast täglich bis 00:00 Uhr in der Küche sitze und Deep Talks führe), zwei Iren (und manchmal auch Irren, vor allem wenn ein Kandidat zum ersten Mal mit Stäbchen essen muss), Deutschen (mit und ohne Shirt) und einem Niederländer (der seine eigene Nespresso-Maschine von Rotterdam mitgebracht hat). Das hört sich jetzt im ersten Moment nach einer testosterongeladenen Gruppe an – well, it is. Denn meine einzigen zwei weiblichen Roomies Olga und Dome sind selten da. Somit sollte der Titel dieses Rauszeit-Beitrages eigentlich «Klein-Laila und die Gym-Bros» lauten. Fair enough, nicht alle sind Gym-Bros, aber Proteinpulver und Poulet gehören schon zum Hauptnahrungsmittel bei uns im vierten Stock.
Alles kann, nichts muss
In Vivarium sind wir aber nicht nur ein Coliving, wir sind eine Community, manchmal schon fast eine kleine Familie. Im Arbeitskontext bedeutet das: Wir helfen einander bei Arbeitsfragen, tauschen uns aus, fixen gegenseitig unsere Computer, tauschen praktische Websites aus, geben Feedback und motivieren uns, wenn es nicht mal der cremige Chai Latte bei Docta schafft. Ich helfe beim Texten von E-Mails, knipse LinkedIn-Bilder und füttere meine Gspändli mit der mitgebrachten Schweizer Schokolade. Am Dienstag findet jeweils eine Colearning-Session statt, wo ein Mitglied der Community den anderen ein Herzensthema vorstellt. Letzte Woche hatten wir gemeinsam eine Breathwork-Session und für nächste Woche hat mich Dome (mehr oder weniger freiwillig) zum Host eines Street-Photography-Workshops erkoren.
Das grösste Bonding passiert aber ausserhalb von 9 to 5. Wer mit den anderen etwas unternehmen möchte, schreibt in den gemeinsam Slack-Channel. Alles kann, nichts muss. Wir gehen Tapas und Paella essen, schlürfen Ramen, sippen Wein (oder Tinto de Verano), lauschen Konzerten in der Fabrica de Hielo, spielen am Sonntag Spikeball am Strand, machen Yoga im Park, schieben die Sofas für Movie-Night zusammen und besuchen Kunstmuseen und Fussballspiele. Jeden Donnerstag findet zudem unser wöchentliches «Family Dinner» statt. Alle schmeissen sich an Herd, Backofen und Mixer und kochen entsprechend dem vorgegebenen Motto was Köstliches für die ganze Gruppe.
Heute markiert Tag 14 meiner Rauszeit. und es ist so viel passiert, dass mein Kopf aktuell der Määs in Luzern gleicht: Ein wilder Wirbel von Farben und Formen, gespickt mit Nervenkitzel und Glückshormonen. Die Angst will mich bei meinen Abenteuern in Valencia von Tag zu Tag weniger begleiten, bis sie irgendwann ganz zu Hause bleibt. Ich hatte mich richtig auf meine erste Rauszeit gefreut und wurde bis jetzt nicht enttäuscht. Manchmal braucht es im Leben einfach einen Mutausbruch, um der Angst einen Knebel in den Rachen zu stecken. Auch wenn es sich jetzt klischeehaft anhört, aber ausserhalb der Komfortzone, liegt halt schon das grösste Wachstum.
In meinem nächsten Beitrag erzähle ich euch, wie es sich in Valencia lebt und wie ein typischer Tag in Vivarium so aussieht. Für mehr Behind-the-scenes Content folgt mir gerne auf Insta. (Achtung: Kann Eifersucht auslösen, da wir immer noch schönstes Wetter und 25 Grad haben. Just saying).
Also guapis. Bis dann. Take care!
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